NEUE ZÜRCHER ZEITUNG: Boris Johnsons Brexit-Dividende ist bescheiden, doch aussenpolitisch hat er «Global Britain» als selbstbewussten Akteur positioniert. Der Ukraine-Krieg hat Londons geostrategische Rolle gefestigt, führt den Briten aber auch vor Augen, dass ihre Interessen mit Europa verknüpft bleiben.
In einer Umfrage von Ende Juni äusserten 90 Prozent der Befragten eine sehr oder ziemlich positive Meinung zu Boris Johnson. Allerdings fand die Erhebung nicht in Grossbritannien, sondern in der Ukraine statt. Im kriegsversehrten Land erfreute sich der abtretende britische Premierminister fast so hoher Beliebtheitswerte wie der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski. In der Heimat hingegen präsentierte sich die Lage zum gleichen Zeitpunkt düsterer: Angesichts der chaotischen Regierungsführung, der schlechten Wirtschaftslage und der Flut von Affären hielt eine Mehrheit der Briten Johnson für inkompetent, unsympathisch und unzuverlässig. Eine Rebellion im Kabinett und in der Tory-Fraktion zwang Johnson am 7. Juli schliesslich zum Rücktritt.
Demokratische Werte
Eine Diskrepanz zwischen Innen- und Aussenwirkung zeigt sich auch beim Brexit, der Johnsons Karriere entscheidend geprägt hat. Zwar werden die Folgen des EU-Austritts von jenen der Pandemie und des Ukraine-Kriegs überdeckt. Doch mehren sich die Hinweise, dass der Brexit zur hohen Inflation, zur Schwäche des Pfunds und zum Rückgang des Aussenhandels beiträgt. Derweil zeigte Johnson nie eine Vision, um mögliche Vorteile des Brexits nutzbar zu machen. Liberale Brexiteers hatten gehofft, Grossbritannien werde dank Deregulierungen und Steuersenkungen konkurrenzfähiger, doch ist die Steuerlast unter Johnson auf den höchsten Stand seit siebzig Jahren geschnellt. » | Niklaus Nuspliger | Donnerstag, 21. Juli 2022