Müsste er die wichtigsten Menschen in seinem Leben benennen, käme Michail Chodorkowski wohl nicht umhin, Wladimir Putin zu erwähnen, weit vorn auf der Liste. Vor zwanzig Jahren hatte der Kremlchef den elf Jahre jüngeren Oligarchen als den gefährlichsten im Rudel der jungen Wölfe ausgemacht, die binnen weniger Jahre die Industrie des Landes unter sich aufgeteilt hatten – und ihn in ein Straflager nach Sibirien geschickt. Das Bild sollte sich einprägen: ein Mann im Käfig, um den Mund ein feines, ironisches Lächeln.
Beide sind sie Kinder der Sowjetunion, aufgewachsen in «Kommunalkas», Gemeinschaftswohnungen, die ihre Familien sich mit anderen teilen mussten, der eine in Leningrad, der andere in Moskau. Beide wussten früh, was sie werden wollten: KGB-Spion der eine, Fabrikdirektor der andere. Ehrgeizig nutzten sie die vom System vorgespurten Wege. Doch dann kollabierte der Koloss, und das Fundament wurde zu Treibsand. Und wieder bewiesen beide, Wladimir Wladimirowitsch Putin und Michail Borisowitsch Chodorkowski, Talent und Findigkeit, um darin nicht nur zu überleben, sondern um darauf zu bauen. – Noch etwas haben sie übrigens gemeinsam: die Art, leise, fast zögerlich zu sprechen. Und in beider Wortschatz spielt «Verrat» eine grosse Rolle. » | Anja Jardine | Samstag, 9. April 2022