Friday, September 18, 2015

Ich bin Angela Merkel, ich darf das

DIE WELT: Energiewende, Euro-Krise, Flüchtlingsdrama: Kanzlerin Merkel entscheidet einsam und handelt spontan. Sie ruiniert damit den europäischen Zusammenhalt und zeigt die Arroganz deutscher Vormachtstellung.

Angela Merkels Wende in der Flüchtlingsfrage wird nur diejenigen überrascht haben, die diese Meisterin der Wendigkeit nicht kennen. Tatsächlich sind Inkonsequenz und Unberechenbarkeit die einzigen Konstanten in ihrer Karriere.

"Die unglaubliche Frau Merkel" – so überschrieb das französische Magazin "Le Point" diese Woche einen Essay über die Kanzlerin. Doch im Adjektiv "incroyable" – unglaublich – schwingt auch die Unglaubwürdigkeit mit.

Nun gehört Wendigkeit zum Anforderungsprofil eines Politikers. "Ich muss ihnen folgen, ich bin ihr Führer" – so rechtfertigte der Meister des Opportunismus, Alexandre-Auguste Ledru-Rollin, eine seiner Volten. Wenn aber aus Anschmiegsamkeit Beliebigkeit wird, wenn – wie bei Merkel – beim beständigen Hü und Hott Gesetze, Verträge und Absprachen wie lästiges Gestrüpp beiseitegeschoben werden, dann wird Prinzipienlosigkeit zur Gefahr.

Als Merkel ankündigte, alle Flüchtlinge in Deutschland willkommen zu heißen, schob sie einfach die Bestimmungen des Dublin-Vertrags beiseite, auf dessen Verabschiedung gerade Deutschland gedrungen hatte. Als sie wenige Tage darauf angesichts der Flüchtlingsflut eine Kehrtwende vollzog und Deutschlands Grenzen dicht machte, verletzte sie, wenn nicht den Buchstaben, so doch den Geist des Schengen-Vertrags über die Freizügigkeit in Europa.

In beiden Fällen stieß sie die europäischen Partner vor den Kopf. "Ich darf das, ich bin Europas Zahlmeisterin" – so scheint Merkel zu denken. Gesetze und Regeln gelten offenbar nur für andere. (+ Video) » | Von Alan Posener, Korrespondent für Politik und Gesellschaft | Freitag, 18. September 2015