QANTARA.DE: Die Volksaufstände in der arabischen Welt haben die bisherige politische Ordnung der autoritär regierten Staaten zum Teil komplett auf den Kopf gestellt. Im Gespräch mit Mona Sarkis erläutert der Nahostkenner Arnold Hottinger die Auswirkungen und Perspektiven der Proteste in der Region.
Herr Dr. Hottinger, Ägypten und Tunesien sind die arabischen Länder, die – wie Sie sagen – den "ersten Akt", also den Sturz des Diktators, hinter sich haben und sich im zweiten Akt befinden. Wie könnte der in Ägypten Ihres Erachtens aussehen?
Arnold Hottinger: Die Armee übernahm die Macht mit Versprechungen, aber ob die Ägypter erhalten, was sie wollen – echte Wahlen, Parteienfreiheit, Informationsfreiheit, neutrale Gerichte – ist unklar. Die Armee, deren Oberhäupter tief im bisherigen System verankert sind, ist es noch nicht gewohnt, sich dem Staat unterzuordnen. Zugleich muss sie auf ihre unteren Ränge Rücksicht nehmen, da die Leutnants ungefähr so denken wie die Studenten und sie im Gegensatz zu den Armeekadern weder Positionen noch Privilegien zu verteidigen haben. Das war auch der Grund, weshalb die Armee nicht auf die Demonstranten geschossen hat. Sie wollte ihr eigenes Auseinanderbrechen verhindern.
Maßgeblich ist nun: wann und was wird zuerst gewählt? Ein Präsident, ein Parlament oder eine gesetzgebende Verfassung? Dabei ist es noch zu früh, über Amr Moussa oder Mohammad el-Baradei zu spekulieren. Auch haben sie alle noch keine Parteien und deren Organisation hängt vor allem vom Zeitpunkt der Wahlen ab. Echte demokratische Strukturen kann man nicht von heute auf morgen aufbauen. Daneben gibt es auch die wirtschaftliche Seite und die verhält sich genau umgekehrt: je länger die Übergangszeit andauert, desto unwahrscheinlicher werden beispielsweise die so wichtigen Auslandsinvestitionen.
Sie erwähnten Baradei und Moussa – hierzulande wird vor allem über die Muslimbrüder spekuliert, mitunter auf dämonisierende Weise.
Hottinger: Die Europäer meinen, jetzt einen politischen Begriff von den Muslimbrüdern zu haben, mit dem sie operieren können. Das ist Unsinn, weil die Muslimbrüder im Begriff sind, sich zu teilen. Die einen wollen eine Demokratie, die anderen auch – aber eine islamische. Hinzu kommen Abspaltungen wie "Wassat", die schon lange keine Muslimbrüder mehr sind und auch eine demokratische Grundidee vertreten. Also, diese Angst vor den Muslimbrüdern ist lächerlich. Sie sind nicht mehr das Gespenst, das sie vielleicht 1949 waren. » | Interview: Mona Sarkis | © Qantara.de 2011 |
Arnold Hottinger, geb. 1926 in Basel, berichtete von 1961 bis 1991 für die Neue Zürcher Zeitung aus Beirut, Madrid und Nikosia über die arabisch-muslimische Welt. Er ist unter anderem der Autor von "Gottesstaaten und Machtpyramiden" (2000), "Islamische Welt" (2004) und "Die Länder des Islam" (2008).
Redaktion: Arian Fariborz, Lewis Gropp/Qantara.de
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