Saturday, May 23, 2009

Grossbritanniens Angst, normal zu werden: Ein Vereinigtes, aber unfertiges Königreich

NZZ Online: Grossbritannien befindet sich in der grössten Wirtschaftskrise seit dem Zweiten Weltkrieg. Die Nation weiss nicht, ob sie unter der Debakel-Regierung von Labour weiterleben will oder mit den Tory-Konfirmanden. Phlegma half bisher weiter – aber wie lange noch?

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Der Kommandant quittiert den Gruss eines königlichen Garderegiments bei der jährlichen Inspektion im Londoner Hyde Park. Bild dank der Neuen Zürcher Zeitung

London, im Mai

Als der britische Premierminister von einer Auslandsreise zurückkehrte, antwortete er noch am Flughafen auf die naheliegende Frage der Journalisten: «Krise? Welche Krise?» Es könnte Gordon Brown sein, aber es war James Callaghan, auch von der Labour-Partei. Die Antwort blieb an Callaghan kleben und öffnete 1979 den Weg für die erste weibliche Regierungschefin Europas, die Konservative Margaret Thatcher. Die grosse Insel weiss mit Krisen umzugehen, was seit dem Zweiten Weltkrieg und dem Verlust des Imperiums und der Suez-Krise erst recht ihren Stolz ausmacht, so sehr wie ihre Insularität zu Europa. Das Wort «Kontinent» hat hier immer einen Beigeschmack.

Kurioser Staat

Die offizielle Staatsbezeichnung «Vereinigtes Königreich» erinnert etwas an die Sowjetunion, die auch keine geografisch-nationale Identität angab. Zwischen England, Grossbritannien und United Kingdom wird, vorab im Ausland, oft nicht unterschieden. Man glaubt zu meinen, wovon man spricht. Weil das Land seit je keine geschriebene Verfassung kennt, ist jedoch vieles unklar, und alle umstrittenen Einzelfälle hängen von der ungefähren historischen Tradition, der Laune von Richtern oder Zufallsvoten im Parlament ab, das aber seinerseits zu sehr von der Regierung abhängig blieb.

Grossbritannien hat als Monarchie (und trotzdem «älteste Demokratie») nur eine Revolution – kurzlebig und tyrannisch unter Cromwell –, die nichts änderte, überstehen müssen. Trotz einer kontinuierlichen Modernisierung blieb vieles unfertig: die durchgreifende Reform des parlamentarischen Systems, namentlich des Oberhauses, und der Monarchie (Thronfolge, Staatskirche, Privilegien, Landbesitz) sowie die Regionalpolitik mit Schottland, Wales und Nordirland (seit der Lösung des Konflikts unter Blair) als ungleichen autonomen Regionen und mit England, dem Stammland, als Unikum ohne eigenes Regionalparlament. Der Druck zu überfälligen Anpassungen ist da, aber ebenso stark auch der unbewusste mentale Widerstand gegen zu viel Normalität. >>> Ulrich Meister, Korrespondent der NZZ | Samstag, 23. Mai 2009