Friday, March 04, 2022

Der Präsident im T-Shirt, der alle beschämt

Selenskyj ruft am 27.Februar in einer Videobotschaft seine Landsleute zur Abwehr russischer Angriffe auf. | Bild: DPA

WOLODYMYR SELENSKYJ IM KRIEG

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG: Die Video-Botschaften eines unrasierten Staatspräsidenten im T-Shirt sind schon jetzt ikonisch. Doch Wolodymyr Selenskyj beschämt nicht nur seinen Gegner Putin, sondern auch uns.

„This is just like television, only you can see much further”, sagt Peter Sellers mit einem wunderbar schillernden Satz in Hal Ashbys politischer Satire „Willkommen, Mr. Chance“ (1979). Der Film erzählt, wie ein Gärtner nach einem langen Leben, das er ausschließlich im Garten einer Villa in Washington verbracht hat, zum ersten Mal seine Umgebung erlebt. Zum Staunen ist das zynische Polit-Biotop Washingtons auch sonst. Doch gerade seine völlige Weltfremdheit erlaubt es Chancey Gardner, unbeschadet das Gestrüpp einer machtbesessenen Umgebung zu durchschreiten und am Ende zum US-Präsidenten aufzusteigen. Ein Amt, das er mit demselben milden Lächeln annimmt wie eine Tasse Tee.

Bis vor ein paar Monaten hätte man auch in Wolodymyr Selenskyjs Geschichte noch den Spin-off einer genialen amerikanischen Drehbuchidee sehen können. Nein, Ronald Reagan ist für den heutigen Präsidenten der Ukraine kein angemessener Vergleich; Reagan war acht Jahre lang Gouverneur von Kalifornien, bevor er nach dem höchsten Amt im Staate griff, er durfte in Ruhe lernen, wenngleich er aus dem Vorwurf des Schauspielerhaften schon früh Profit schlug. Von einem Journalisten 1966 ge¬fragt, wie er sich wohl an der Spitze des Bundesstaates Kalifornien behaupten werde, sagte der Hauptdarsteller des Schimpansen-Films „Bedtime for Bonzo“ gewitzt: „Keine Ahnung, einen Gouverneur habe ich noch nie gespielt.“ » | Von Paul Ingendaay, Europa-Korrespondent des Feuilletons in Berlin. | Freitag, 4. März 2022

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