Thursday, September 02, 2021

Wider eine schiefe Sicht auf Afghanistan – nicht der Westen, sondern der Islam ist gescheitert

NEUE ZÜRCHER ZEITUNG: Der westliche Abzug aus Afghanistan wird nicht selten hämisch kommentiert. Für «Islam-Versteher» ist jedes Bemühen, Muslime an Freiheit, Demokratie und Menschenrechten teilhaben zu lassen, ein kultureller Übergriff. Direkt betroffene Muslime sehen das anders.

Afghanische Mädchen lernen in einer Schule in Kabul, eine Aufnahme aus dem Jahr 2006. | Paula Bronstein / Getty

GASTKOMMENTAR

In Bezug auf Afghanistan ist derzeit allerorten vom «Scheitern des Westens» zu hören, vom Scheitern des Islam jedoch so gut wie nie. Der Westen hatte jedoch nie vor, Afghanistan zu «verwestlichen». Insofern ist er mit seinen Werten dort auch nicht gescheitert. Er hat lediglich versucht, militärisch eine Brandmauer zwischen dem friedlich-toleranten und dem kriegerisch-jihadistischen Islam zu errichten. Denn diese Brandmauer fehlt in der islamischen Theologie bis heute.

Darauf verweist die muslimische Aufklärung besonders hartnäckig seit 9/11: «Der friedlich-tolerante Islam ist als Wunschvorstellung der meisten Muslime verständlich, allein ihm fehlt die theologische Stütze», erklärte 2002 der Algerier Soheib Bencheikh, damals Grossmufti der 46 muslimischen Gemeinden von Marseille. 2003 schrieb der tunesisch-stämmige Islamwissenschafter Abdelwahab Meddeb: «Wenn der Fanatismus die Krankheit des Katholizismus und der Nazismus die deutsche Krankheit darstellen, dann ist im Fundamentalismus zweifellos die islamische Krankheit zu sehen.» Leider ohne Wirkung auf das nach wie vor weit verbreitete «Das hat alles nichts mit dem Islam zu tun»-Denken in der westlichen Politik und unter westlichen Intellektuellen.

Dreissig kleine Kameras

Da er diese Missachtung der muslimischen Aufklärung für verantwortungslos und gefährlich hielt, richtete der Präsident der grössten Muslimvereinigung Indonesiens, des bevölkerungsreichsten muslimischen Landes der Welt, Yahia Cholil Staquf, 2017 einen warnenden Appel an den Westen: «Es gibt einen ganz klaren Zusammenhang zwischen Fundamentalismus, Terror und den Grundannahmen der islamischen Theologie . . . Der Westen muss aufhören, das Nachdenken über diese Fragen für islamophob zu erklären.» » | Samuel Schirmbeck* | Donnerstag, 2. September 2021

* Samuel Schirmbeck ist Autor und Filmemacher. Er arbeitete als Redaktor bei der französischen Nachrichtenagentur AFP in Paris. 1991 baute er als erster westlicher permanenter Fernsehkorrespondent in Algerien das ARD-Fernsehstudio Algier auf und berichtete zehn Jahre lang über den algerischen Bürgerkrieg und die Entwicklungen in Marokko und Tunesien.