NEUE ZÜRCHER ZEITUNG: Gescheiterte Revolutionen, Bürgerkriege, Flüchtlingswellen und Hungersnöte: Der Nahe Osten macht nur selten positive Schlagzeilen. Und ein Ende von Gewalt und Chaos ist nicht in Sicht. Selbst die Inseln relativer Stabilität sind auf Sand gebaut.
«Im Nahen Osten muss man ein Optimist sein», hat mir ein erfahrener Kollege einst geraten. Als mentale Überlebenshilfe mag diese Denkweise für einen Korrespondenten nützlich sein. Nach drei Jahren in Beirut muss ich indes feststellen: Realistisch betrachtet gibt es im Orient kaum Grund, auf Besserung zu hoffen. Selbst verheissungsvolle Silberstreifen am Horizont erweisen sich als leere Luftspiegelungen.
Einer dieser seltenen Silberstreifen war der Aufstieg von Mohammed bin Salman in Saudiarabien. Der junge Kronprinz predigte einen «gemässigten Islam», schlug freundliche Töne gegenüber Israel an, erlaubte den Frauen das Autofahren und lockerte ihre Bevormundung. Er liess Kinos und Konzerte zu und öffnete das Mutterland des Islams für abenteuerlustige Individualtouristen. Hatte die saudische Erdölmonarchie früher die globale Verbreitung eines rigiden Islams finanziert, der nicht selten zur Einstiegsdroge für Jihadisten wurde, schien Riad nun offen für eine zukunftsfähige, pragmatische Politik zu sein. » | Christian Weisflog, Beirut | Mittwoch, 22. September 2021