Ein Wort macht Karriere, das die Fachleute schon fast vergessen hatten. Es bezieht sich auf ein Ereignis vor rund 1500 Jahren, und doch klingt es höchst aktuell: Völkerwanderung. Wenn sich Hunderttausende von Flüchtlingen zu Fuß auf den Weg machen, dann scheint diese Parallele nahezuliegen. Das gilt umso mehr, als die Landkarten mit den Balkan- und anderen Routen an jene Grafiken mit den großen Pfeilen erinnern, die in den Schulbüchern einst die Züge der Germanen symbolisierten.
Das Wort macht auch Angst. Oft soll es genau diese Panik bewusst transportieren. Denn die historische Völkerwanderung des 4. und 5. nachchristlichen Jahrhunderts war nicht irgendeine Migrationsbewegung. Es geht um einen Zivilisationsbruch, vielleicht den am längsten nachwirkenden der Geschichte. Es geht um vermeintliche „Barbaren“, die nach dem verbreiteten Geschichtsbild das Römische Weltreich überrannten und der antiken Hochkultur den Garaus machten. Erst ein Jahrtausend später, in der Renaissance, erholte sich das Abendland wieder von dem Rückschlag. So haben es jedenfalls viele aus dem Geschichtsunterricht in Erinnerung. » | Ralph Bollmann | Sonntag, 1. November 2015