DIE WELT: Nie hat ein Politiker mit solcher Radikalität eine Gesellschaft verändert wie Kemal Atatürk, der Gründer der Türkei. Sein westlicher, säkularer Wertekanon ist heute durch Erdogan in Gefahr. Von Dietrich Alexander
Zu den Pflichtveranstaltungen hoher Staatsgäste in der Türkei gehört es, das Mausoleum des Republikgründers zu besuchen: Mustafa Kemal Pascha, genannt Atatürk. Beeindruckend ist Anıtkabir, das Denkmal, rund um die Uhr von Soldaten bewacht. Wachwechsel im Stechschritt, ein Statement in Stein, ewige Ruhe im 42 Tonnen schweren Sarkophag.
"Vater der Türken" heißt Atatürk übersetzt. Als solcher begreift sich der Soldat, Revolutionär, Visionär und Politiker wohl, als er sein Land aus den Trümmern des Osmanischen Reiches erhebt und ihm ab der Proklamation der Republik am 29. Oktober 1923 einen neuen, seinen Stempel aufdrückt. Der Weg des Mustafa Kemal Pascha zu Atatürk aber ist heftig, kontrovers und dauert bis zum Jahr 1934. Erst in dem Jahr verleiht ihm die Große Nationalversammlung den Ehrentitel, den niemand sonst je tragen darf und wird.
Um zu begreifen, welchen elementaren kulturpolitischen Wandel Kemal Mustafa Pascha seinem Land verordnet, muss man die Figur des Mannes studieren, der am 19. Mai 1881 unter dem Namen Mustafa in Saloniki (heute: Thessaloniki, Griechenland) als Sohn des Holzhändlers und ehemaligen Zoll-Leutnants Ali Riza sowie dessen Frau Zübeyde Hanim in einfachen Verhältnissen geboren wird. Kemal heißt auf Arabisch Vollendung » | Von Dietrich Alexander | Montag, 17. Juni 2013