Thursday, October 06, 2011

Arabischer Aufstand und Scharia: Sehnsucht nach göttlicher Ordnung

SUEDDEUTSCHE: Die arabische Revolution gibt den Demokraten Auftrieb - aber auch den Islamisten. Diese fordern die Scharia als seligmachende Alternative. Folgt der demokratischen Aufbruchstimmung der islamistische Abbruchbetrieb, in dem Frauen ausgepeitscht werden?

Die Nebel der Tränengasgranaten über Kairos Tahrir-Platz hatten sich gerade erst gelegt, da waren sie auf einmal da: Bärtige Fundamentalisten und ihre vollverschleierten Frauen, die nach dem Sturz des Mubarak-Regimes durch junge demokratische Aktivisten plötzlich mehr Islam in Ägypten forderten und nach derScharia riefen, dem islamischen Gesetz. Sie standen neben den gemäßigteren Islamisten von der Muslimbruderschaft: Modernisten, die einen angeblich weichen Islam anpreisen als Lösung aller ägyptischen Probleme.

Voraussetzung für diesen "Islam light" sei, dass islamische Rechtsvorstellungen stärker Einzug hielten in der Gesetzgebung. Wird das Land am Nil also bald ein mehr oder minder islamischer Staat, in dem die Frauen noch mehr benachteiligt sind, Bekleidungsvorschriften gelten, Homosexuelle und Ehebrecher verfolgt sowie Wein und Bier verboten werden?

Das Hauptargument aller Islamisten ist: Ägypten ist ein islamisches Land, die Scharia unablöslicher Teil des Islam. Das religiöse Recht müsse daher Widerhall in der Verfassung - und damit auch im Alltagsrecht - finden. In den Augen von Demokraten, Säkularen und auch für die christliche Minderheit der Kopten stellt sich das Problem anders dar: Bekommt Äygpten nach Mubarak eine hieb- und stichfeste, demokratisch-weltliche Verfassung? Oder bleiben Schlupflöcher für Islamisten und ihre Rechtsvorstellungen offen?

Auch unter Präsident Hosni Mubarak war die Scharia in der Verfassung als "Quelle" des Rechts verankert. Mit dem halbherzigen Zugeständnis an die muslimische Mehrheit im Land blieb garantiert, dass säkulares und religiöses Recht sich wenigstens auf dem Papier nicht widersprachen. Mubarak hatte die Scharia aber weitgehend ausgebremst, ihr wie viele arabische Staaten nur noch im Erb- und Familienrecht Raum gegeben. Die damit einhergehende Benachteiligung der Frauen bei Scheidung und Erbe versuchte er mit Zusatzgesetzen auszugleichen - mit begrenztem Erfolg. » | Von Tomas Avenarius | Kairo | Sonntag 02. Oktober 2011