ZEIT ONLINE: Josef Joffe: Gedankenverwirrung im Streit der Islamversteher und -verächter
Jeder Religion kann Schreckliches nachgesagt werden. Die Juden haben die Kanaaniter beim Einfall ins Gelobte Land gemeuchelt; ihr »Jahwe« ist sowieso ein »rächender Gott«. Den Christen darf man die Kreuzzüge und Torquemada anhängen, den Muslimen Ehrenmord, Steinigung und Terror im Namen Allahs. Anderseits haben die Juden nicht nur den einen und einzigen Gott erfunden, sondern auch »Liebe deinen Nächsten«. Das Christentum hat die Würde des Individuums und die Trennung von Kirche und Staat vorgezeichnet. Dem Islam verdankt der Westen Schätze, die von A wie Algebra bis Z wie Zimt reichen.
Vergessen wir also die wohlfeile Aufrechnung. Im Streit zwischen Islamverächtern und -verstehern lautet die eigentliche Frage nicht: »Wie halten wir es mit dem Islam?«, sondern: »Wie halten wir’s mit uns, dem Westen?« Zwei Antworten, die durch die Debatte geistern, zeugen von Gedankenverwirrung. Eine fordert Toleranz auch dann, »wenn ein anderer nicht tolerant sein will«. Die zweite handelt vom »Fundamentalismus der Aufklärung«, die der islamischen Variante gleiche (und oft mit »Islamophobie« einhergehe). Islamkritiker seien also die geistigen Zwillinge ihrer Feinde. >>> Josef Joffe, Herausgeber der Zeit | Freitag, 12. März 2010