NZZ am Sonntag: Die grossen Volksverführer der Geschichte haben es vorgemacht. Usama bin Ladin ist einer von ihnen. Jetzt wird sein Tonarchiv aus Afghanistan in Kalifornien untersucht.
Fünf Jahre hört Flagg Miller schon seine Stimme. Immer wieder dieser sonore Klang, Wiederholungen ohne Höhen und Tiefen, wie sie um Vertrauen wirbt, wie sie einlullt, anzieht. Wüsste Usama bin Ladin, dass dieser Amerikaner seine Tonbänder nummeriert und analysiert, wäre der Kaida-Chef vielleicht gerührt.
«Ein Junge stürzt sich in den Rauch des Kriegs, lächelnd, er lehnt sich vor, färbt die Klingen der Lanzen rot, auf dass Gott meine Augen davor bewahre, die wichtigsten Menschen aus dem Blick zu verlieren», dichtet bin Ladin. Arabische Poesie über die Kämpfe des Propheten Mohammed verknüpft er mit Ereignissen der Gegenwart. Mekka und Medina werden mit Jalalabad und Kandahar verbunden, der Krieg in Afghanistan im 20. Jahrhundert mit der Befreiung der Arabischen Halbinsel von christlichen Invasoren aus Äthiopien im 6. Jahrhundert verglichen.
1459 Tonbänder
Wenn er sich nicht mit bin Ladin befasst, steht Flagg Miller in einem fensterlosen Seminarraum der University of California in Davis. Er spricht über Al Qutb, den Begründer des islamistischen Fundamentalismus, und über Sufismus. Gegenüber, im Frauenzentrum, werden «Die Vagina-Monologe» aufgeführt, um die Ecke bietet ein «lesbian, gay, bi-sexual and transgender resource center» seine Dienste an. Im neunten Stock der Sproul Hall, die an einen Getreidesilo erinnert, sitzt Miller am Tonband, mit dem Fuss bedient er die Pausentaste und hackt Transkriptionen in sein MacBook. Draussen sind Getreidefelder zu sehen, Plantagen mit biologisch gezogenen Mandarinenbäumen, Pferdeweiden, dort, wo früher Prärie war und die Goldsucher nach Sacramento zogen. Ein Amtrak-Zug schnauft auf dem Weg nach San Francisco durch die Stadt.
In Davis leben 60 000 Einwohner, die Hälfte sind Studenten. Zigarettenstummel liegen hier nicht unnötig lange auf der Strasse herum. Zweimal pro Woche treffen sich die «overeaters anonymous». Wenn Flagg Miller in der verkehrsberuhigten Stadt Velo fährt, trägt er einen Helm.
Meist ist der Blonde aber mit bin Ladin allein. Der 41-Jährige aus Kansas lebte als Austauschschüler in Tunesien, lernte Arabisch in Syrien und in Jemen. Er liebt Arabisch. >>> Von Christoph Plate | Sonntag, 15. Februar 2009
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